Türkei

Türkei: Justiz steht wegen Ahmet Altan und Nazlı Ilıcak massiv in Kritik

Ein Gericht in Istanbul verurteilte in einem Revisionsverfahren am Montag den Journalisten und Autor Ahmet Altan zu 10 Jahren und 6 Monaten, die Journalistin Nazlı Ilıcak zu 8 Jahren 9 Monaten Haft. Beide wurden wegen Straferlass durch das Gericht vorzeitig entlassen.

Ein Gastbeitrag von Nabi Yücel

Zunächst einmal: Ein Gericht in Istanbul verurteilte in einem Revisionsverfahren am Montag den Journalisten und Autor Ahmet Altan zu 10 Jahren und 6 Monaten, die Journalistin Nazlı Ilıcak zu 8 Jahren 9 Monaten Haft.

Beide wurden wegen Straferlass durch das Gericht vorzeitig entlassen. Sie saßen bereits seit Mitte 2016 in Untersuchungshaft. Beide Verurteilte dürfen aber in der restlichen Zeit des Strafmaßes nicht außer Landes. Mehmet Altan, der jüngere der Gebrüder Altan, bekam hingegen Freispruch.

Ahmet Altan bekommt in diesem Jahr noch den Geschwister-Scholl-Preis. Er wird für sein Buch „Ich werde die Welt nie wiedersehen. Texte aus dem Gefängnis“ ausgezeichnet. Für viele in der Türkei ist das ein Schlag ins Gesicht. Vor allem jene Angeklagten und Verurteilten, die einem großen Komplott zum Opfer fielen und dabei nicht nur von der “Taraf” oder Ahmet Alkan sprichwörtlich in den Knast gebracht und bis zu vier Jahre in Haft saßen, sind geschockt darüber, dass der Journalist und Gründer der seit 2016 verbotenen Tageszeitung „Taraf“ frühzeitig aus der Haft entlassen wurde sowie ein mildes Strafmaß erhielt.

Was bisher juristisch geschah

Ahmet Altan ist Journalist und Schriftsteller, gründete 2007 die eigene Zeitung „Taraf“. Die erste Auflage wurde am 15. November 2017 herausgebracht. Dezember 2012 verließ Ahmet Altan zusammen mit Yasemin Çongar die Zeitung. Ahmet Altan wurde zusammen mit seinem Bruder Mehmet Altan am 10. September 2016 verhaftet. Die Staatsanwaltschaft warf Ahmet Altan, Mehmet Altan und Nazlı Ilıcak vor, am Vorabend des gescheiterten Putschversuches „unterschwellige Botschaften“ zum Putsch verbreitet zu haben. Am 16. Februar 2018 verurteilte das Istanbuler Gericht Ahmet Altan, Nazlı Ilıcak und Mehmet Altan zu jeweils lebenslanger Freiheitsstrafe.

Am 3. Mai 2019 wies das türkische Verfassungsgericht die Individualbeschwerden von Ahmet Altan und Nazlı Ilıcak in allen Punkten zurück. Das Gericht sah weder in der unverhältnismäßigen Inhaftierung, noch im Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit eine Verletzung der Rechte der Beschwerdeführer. Mehmet Altan bekam dagegen in einigen Punkten recht, woraufhin er freigelassen wurde.

Am 7. Oktober 2019 hob das Oberste Gerichtshof auf Beschwerde der Anwälte von Ahmet Altan und Nazlı Ilıcak das Urteil des vorinstanzlichen Gerichts in Istanbul auf. Sie verfügte, dass die Inhaftierung beibehalten und die Vorinstanz eine neue Beweisaufnahme in Zusammenhang mit der „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ führt und ihr Urteil revidiert.

Am 4. November 2019 dann die Verurteilung wegen Beihilfe zum Terrorismus mit dem bekannten Urteil und Straferlass. Der Anklagepunkt der “Mitgliedschaft in einer Terrororganisation” wurde dagegen von der Staatsanwaltschaft entsprechend des Urteils des Berufungsgerichts dann doch fallengelassen.

Was davor geschah

Die Zeitung „Taraf“ spielte mit einem Artikel von Mehmet Baransu, Yıldıray Oğur und Yasemin Çongar am 20. Januar 2010 eine besondere Rolle bei der Veröffentlichung gefälschter Dokumente in der Balyoz-Affäre, mit der die Gülen-Bewegung die Justiz, die Militärführung sowie Persönlichkeiten erneut angriffen. Es war nach der „Ergenekon“ (2007) der nächste große Komplott der Gülen-Bewegung gegen hochrangige Militärs, Journalisten, Akademiker, Unternehmer und Rechtsanwälte.

Yasemin Çongar verließ nach 2012 die Zeitung sowie das Land und lebt seitdem in den USA. Gegen Sie und Mehmet Baransu wurde aufgrund der mutmaßlich falschen Verdächtigung sowie vorgelegten falschen Beweismittel Anklage erhoben, Baransu sitzt seither in Untersuchungshaft. Die Verhandlung dauert noch an.
Die dann kurz hintereinander nachfolgenden Artikel der „Taraf“ sollten anhand von gefälschten Beweisen erhärten, dass die angesprochenen Personenkreise, die vom 18. November 2002 bis 14. März 2003 amtierende 58. Regierung der Türkei, stürzen wollten. Der Plan soll im Stab der 1. Armee ausgearbeitet worden sein. Es wurde u.a. vorgeworfen, dass das Militär hierzu Moscheen bombardieren werde, was in der Öffentlichkeit für besondere Erregung sorgte.

Die Ermittlungen gegen die sogenannte „Balyoz“ wurden 8 Tage nach dem Artikel der „Taraf“ aufgenommen, weil mehrere Journalisten der „Taraf“ wie auch „Zaman“ und „Bugün“ Strafanzeigen bei der Staatsanwaltschaft Beşiktaş erstatteten und sich als Geschädigte zeigten. Darunter befanden sich Namen wie Nazlı Ilıcak, Mehmet Altan, Ekrem Dumanlı, Abdurrahman Dilipak, Ahmet Taşgetiren, Ali İhsan Karabasanoğlu, Hidayet Karaca, Cengiz Çandar, Hasan Celal Güzel, Hüseyin Gülerce, Mustafa Karaalioğlu, Perihan Mağden, Akif Emre, Hasan Karakaya oder Murat Belge.

Ab März 2010 wurden daraufhin Dutzende Generäle und Offiziere festgenommen und infolge zu langen Haftstrafen verurteilt, bis das türkische Verfassungsgericht am 19. Juni 2014 befand, dass die Rechte der Beschuldigten in diesen Verfahren verletzt wurden, und die sofortige Freilassung der Angeklagten anordnete. Am 31. März 2015 wurden alle 236 Beschuldigten im Balyoz-Prozess freigesprochen. Zuvor verwendete Beweise wurden für gefälscht befunden.

Die „Taraf“ spielte zusammen mit Gülen-nahen Medien auch eine unrühmliche Rolle beim sogenannten „Ergenekon“-Verfahren, der Inhaftierung und anschließenden medialen Vorverurteilung von Journalisten. Am 3. März 2011 veröffentlichte die „Taraf“ unter der Titelschlagzeile „Nicht wegen Journalismus verhaftet“ über die Verhaftung der Journalisten der Oda TV, Nedim Şener und Ahmet Şık, die über die Gülen-Bewegung ein Manuskript unter dem Namen „Die Armee des Imam“ arbeiteten.

Mehrere oppositionelle Medien sprachen in diesem Zusammenhang von einem nächsten Paukenschlag gegen das nationale Gefüge, während die “Taraf”, “Zaman” oder “Bugün” weiterhin in mehreren Berichten das Bild etablierten, die Verdächtigen seien sehr wohl berechtigterweise beschuldigt worden.

Die 134-seitige Anklageschrift warf dementsprechend Nedim Şener und Ahmet Şık sowie 12 weiteren Verdächtigen vor, sie hätten die bewaffnete “Terrororganisation Ergenekon” gegründet, geleitet oder ihr angehört, der Organisation geholfen, das Volk zu Hass und Feindschaft aufgestachelt, Dokumente über die Sicherheit des Staates bzw. geheime Dokumente besorgt, das Recht auf Privatsphäre verletzt, persönliche Daten gespeichert und den Versuch unternommen, faire Gerichtsverfahren zu beeinflussen.

Das Ergenekon-Verfahren wurde bereits 2007 losgetreten und beinhaltete einen sechseinhalbjährigen Mammutprozess (Anfang 2007 bis Mitte 2013) in der Türkei, in dem hunderte Militärs, Juristen, Geschäftsleute, Politiker und Journalisten als mutmaßliche Mitglieder einer angeblichen Verschwörergruppe verhaftet und zum großen Teil am 5. August 2013 zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden.

Die mutmaßlichen Oda TV-Mitangeklagten im Ergenekon-Prozess, Ahmet Şık und sein Kollege Nedim Şener, wurden am 13. März 2012 aus der Haft entlassen. Ahmet Şık erklärte in diesem Zusammenhang in einem Interview am 26. September 2016, er kenne Ahmet Altan seit 20 Jahren, weshalb er hier in einem Dilemma stecke, aber Altan mache einen schlechten Journalismus in der “Taraf”, auch wenn er selbst in seinen eigenen Kolumnen die Verhaftung von Journalisten stets kritisiert habe.

Am 21. April 2016 hob der Oberste Gerichtshof den ganzen Ergenekon-Prozess und die 275 Verurteilungen auf, mit der Begründung, dass die Existenz der angeblichen Ergenekon-Verschwörung, die den damaligen Regierungschef Recep Tayyip Erdogan habe umstürzen wollen, während der Verhandlung nicht nachgewiesen und dass das Recht der Verteidigung nicht eingehalten wurde.

Die „Taraf“ berichtete am 14. April 2009 auch bei der 12. Verhaftungswelle in Zusammenhang mit der sogenannten „Ergenekon“ nicht zimperlich über die Verhafteten, titelte in großen Lettern über „Die ruchlosen Hodschas stehen unter Polizeigewahrsam„. Insgesamt 43 Personen aus Gesellschaft, Politik und Medien, darunter Türkan Saylan, wurden in Polizeigewahrsam genommen. Saylan war eine säkular eingestellte Persönlichkeit der türkischen Zivilgesellschaft, die eine Stipendien-Stiftung zur Förderung junger Mädchen gegründet hatte. Die Zeitung „Taraf“ verteidigte in weiteren Artikeln die kurzzeitige Verhaftung der todkranken Türkan Saylan.

Am 31. März 2012 bedankte sich die „Taraf“ auf der ersten Seite beim Generalstaatsanwalt Zekeriya Öz für die Verfolgung der Ergenekon. In der Geschichte der Türkei sei es einmalig, dass sich ein Staatsanwalt traue, Putschisten vor Gericht zu zerren, so die Zeitung weiter. In der oberen Ecke der ersten Seite betonte Ahmet Altan in einer Kurzfassung seiner Kolumne, dass diese Tat des Staatsanwalts nicht jedermanns Sache sei, eine derartige Gruppierung auffliegen zu lassen.

Bekannt wurde Zekeriya Öz im Jahr 2007, als die Polizei bei einer Durchsuchung in Ümraniye Handgranaten sicherstellte. Öz bekleidete zu jener Zeit das Amt des stellvertretenden „Staatsanwalts der Republik“ und leitete als Sonderstaatsanwalt mit besonderen Kompetenzen die Ermittlungen, die sich zum Ergenekon-Verfahren auswuchsen. Zekeriya Öz flüchtete kurz vor seiner Verhaftung im August 2015 in Zusammenhang mit der Gülen-Bewegung ins Ausland. Man vermutet ihn in Deutschland.

Wie sind die Reaktionen auf das Urteil vom Montag?

Die türkische Justiz steht derzeit wegen dem Urteil zu Ahmet Altan und Nazlı Ilıcak unter Sperrfeuer. Viele ehemalige Balyoz-Verurteilte, Politiker, Journalisten, Rechtsanwälte und ehemalige Militärs sowie AKP-Politiker wie auch MHP-Politiker, finden die Strafe zu milde, sehr viele aus Politik und Gesellschaft verstehen das Urteil überhaupt nicht mehr.

Der ehemalige Marineoberst Ali Türkşen, der ebenfalls in Zusammenhang mit der Balyoz verurteilt wurde, twitterte, dass die türkische Justiz die Gerechtigkeit mit Füßen getreten hätte. Türkşen warf in diesem Zusammenhang Nazlı Ilıcak vor, sie werde jetzt wohl auf ein Glas Wein anstoßen, mit Ahmet Altan Schneeball spielen – eine Anspielung auf ein Bild, in der Nazlı Ilıcak Zekeriya Öz mit einem Schneeball bewirft.

Der ehemalige Admiral Nusret Güner, der im Balyoz-Prozess mitangeklagt war und verurteilt wurde, erklärte in einem Tweet, man habe mithilfe der Medien das Land zerstört, die türkische Armee mit allem möglichen in den Dreck gezogen, bekomme aber gerademal 5 Jahre Haft.

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